(Auszug)
Komm doch übers Wochenende, sagte Edina zu mir am Telefon als mir das Leben und die Liebe gerade dreimal kräftig in die Suppe gespuckt hatten und Wien plötzlich scheußlich eng und erdrückend geworden war. Wir machen uns ein paar schöne Tage, kochen was Feines. Wir könnten auch in die Therme gehen. Du weißt schon die Széchenyi? Die kennst du doch. Warst du da schon mal? War ich nicht. Und bevor ich noch darüber nachdenken konnte, hatte ich schon Warum eigentlich nicht?, gesagt, eilig meine Reisetasche gepackt und saß am nächsten Morgen in einem Bus Richtung Osten.
Drei Stunden sind keine lange Zeit, um in eine andere Hauptstadt zu fahren. 240 Kilometer. Fährt man 240 Kilometer von Wien aus Richtung Westen, dann ist man ungefähr da, wo Ried im Innkreis ist. Und obwohl ich noch nie da war, da wo Ried im Innkreis ist, scheint mir Budapest viel weiter weg. Auf der Landkarte in meinem Kopf. Menschen haben sehr unterschiedliche Kopfkarten und die meisten haben nur bedingt etwas mit geographischer Wirklichkeit zu tun. Sie skizzieren sich durch die Art wie wir Räume wahrnehmen, welche Bedeutung wir ihnen zuschreiben und von welcher Position aus wir sie betrachten. In der Wissenschaft nennt man solche Kopfkarten mental maps. Mit diesem Konzept wird in der Psychologie, Geographie und Geschichte geforscht, warum wir bestimmte Räume sehen und andere nicht. Und warum wir, wenn wir sie sehen, sie so sehen und nicht anders.
In meiner Kopfkarte, beispielsweise, lag die Stadt Prag für sehr lange Zeit – länger als ich an dieser Stelle zugeben möchte – östlich von Wien. Und das mit einer unerschütterlichen Standhaftigkeit über die die Eisenbahn drüber fährt. Ich dachte ich höre nicht richtig, als mich so ein Oberg’scheiter einmal vom Gegenteil überzeugen wollte. Ohne zu zögern ging ich eine Wette mit ihm ein, setzte ein überlegenes Lächeln auf und sagte dem Oberg’scheiten, er könne mir schon einmal die nächste Runde bestellen, denn ich würde es ja wissen. Die Wette verlor ich Idiot natürlich.
Ich wage zu behaupten, dass ich mit dieser geographischen Ungenauigkeit nicht alleine bin und schiebe die Schuld voll und ganz auf das mystische Etwas, das wir den Osten oder Osteuropa nennen, in dem ja Tschechien und seine wunderbare Hauptstadt liegt. Wenn wir heute Osteuropa sagen, dann meinen wir bei weitem nicht nur die geographische Lage. Eigentlich – und da bin ich mir ausnahmsweise einmal ziemlich sicher – meinen wir mit Osteuropa zwar auch die geographische Lage, aber in erster Linie meinen wir etwas anderes.
Mein Bus rollt nach Budapest und langsam erwache ich aus meinem Reisekoma, das mich drei Stunden lang in meinem Sitz hin und her schaukeln ließ. Wir nähern uns dem Busbahnhof und schon lange bevor wir überhaupt in dessen Einfahrt einbiegen, beginnt unter den Reisenden das kollektive Gähnen, das Strecken, das Herumwurschteln mit Taschen und iPod Kopfhören, das – so scheint es – immer früher einsetzt, je länger die Reise gedauert hat. Ich bleibe solange sitzen, bis wir tatsächlich zu stehen kommen und sich die Bustür mit einem Seufzen öffnet. Heiße Luft schlägt mir entgegen, als ich aussteige, meine noch etwas müden Augen blinzeln in einen hellen, sonnigen Tag hinein. Mein Handy vibriert in meiner Tasche.
- Es tut mir so leid, ich kann dich nicht abholen kommen. Ich habe gerade kein Auto. Schaffst du es alleine zu mir? x Edina
- Klar. Sag mir nochmal, wo ich hin muss, tippe ich meine Antwort.
- U-Bahn bis Széll Kálmán tér. Dann weiter mit Bus 21. Steig aus, wenn du den Wasserturm siehst. Kannst du dich noch an den erinnern?
- Ja weiß schon. Bis dann
Manche sagen Osteuropa sei eine Erfindung. So wie die Glühbirne oder die vollautomatische Waschmaschine es sind. Okay, vielleicht nicht ganz. Nicht in dem Sinn, dass die Erfindung aus einer reinen Idee plötzlich etwas Materielles schafft. Aber umgekehrt, bei der Erfindung Osteuropas wurde etwas Materielles zu einer Idee geschaffen und das ist schon einigermaßen erstaunlich.
Bevor die Glühbirne erfunden wurde, hatten zahlreiche Menschen – unter ihnen Thomas Edison, dem die Erfindung letztlich zugeschrieben wird – sich zahlreiche Gedanken gemacht. Sie hatten Einfälle, probierten sie aus, tüftelten herum, skizzierten, strichen durch, legten schließlich Hand an und schufen aus einer bloßen Idee etwas Materielles, das man angreifen, in die Wand schrauben und einschalten kann.
Osteuropa wurde so natürlich nicht erfunden, wurde nicht von einem verrückten Wissenschaftler mit krausem Haar und Nickelbrille in einem Labor gebraut. Dennoch wurde es irgendwie erschaffen, denn viele werden wohl bestätigen können, dass Osteuropa schon etwas ist.
Osteuropa, das der etwas wildere, auf sympathische Weise ungekämmte Teil Europas. Osteuropa ist ein grauer Plattenbau und ein stinkendes, altes Auto. Es ist eine löchrige Straße durch endlose ehemalige Kolchose-Felder. Ist ein Artikel in der Kronen Zeitung über Rumänen-Banden und Bettler Mafias. Es ist die EU-Osterweiterung und das Sudern der Österreicher darüber. Osteuropa ist ein alter Wiener Straßenbahnzug, der sich durch Sarajevo schlängelt. Osteuropa ist schon längst kein Geheimtipp mehr für junge Backpacker. Es ist billiges Bier und grandioser gypsy sound. Ist die lange Schlange deutscher Autos vor der polnischen Tankstelle. Ist Zahnkronen, Augenlaser und neue Plastikbrüste – alles gleich hinter der Grenze.
Aber wo kommt es her? Physisch war Osteuropa ja immer schon da. Es gab Berge, Flüsse, Seen, Dörfer, Städte, die alle irgendwann zu einer einzigen Idee zusammen wuchsen – zur Idee von Osteuropa.
Ich steige also am Széll Kálmán tér aus und weiß sofort, dass ich hier schon einmal war, vor einigen Jahren, auch mit Edina. Wir haben uns damals hier an der Ecke einen Hot Dog geteilt und Edina ist dabei Ketchup auf ihre neuen Schuhe getropft, was sie so sehr geärgert hat, dass sie vor lauter Zorn gleich den gesamten Hot Dog in die nächste Mülltonne gepfeffert hat. Ich habe sie damals gefragt, ob sie blöd im Kopf wäre. Sie hat geantwortet, dass ich doch keine Ahnung davon hätte wie teuer diese Schuhe waren, dass Ketchup-Flecken da nicht mehr rauszubringen wären und dass sie nun eine große Stange Geld beim Fester rausgeschmissen hätte. Ich habe zurückgekeift, dass sie zu dieser großen Stange Geld nun auch noch die 300 Forint dazurechnen könne, die sie für den Hot Dog gezahlt hat, denn die wären nun auch futsch, und dass ich den Hot Dog im Übrigen noch gerne gegessen hätte. Und außerdem, feuerte ich hinterher, würden in Afrika die Kinder verhungern.
Ich weiß nicht mehr wie lange wir uns nach dieser Episode ungläubig angeschmollt haben, bevor wir wieder miteinander gelacht haben, aber ich weiß noch, dass damals, bei meinem letzten Besuch in dieser Stadt, dieser Platz hier anders hieß. Damals hieß er Moszkva tér, da bin ich mir sicher. Ich werde Edina später danach fragen, sage ich mir und mache mich auf die Suche nach dem Bus. Der Platz ist einer der geschäftigsten in Budapest. Hier treffen U-Bahn, Busse, Straßenbahnen und Autos aus allen Richtungen zusammen und verschmelzen unter sengender Junisonne dabei zu einer einzigartigen, wuselnden Hässlichkeit, die nur Großstädte zusammenbringen. Ich schwinge meine Reisetasche von einer Schulter auf die andere und verfluche mich selbst, gestern Abend so viel eingepackt zu haben.
Dass Osteuropa eine Idee ist erkennt man schon daran, dass man sich nicht einig ist, was denn nun überhaupt dazugehört und was nicht. Für die UNO gehören unter anderem Russland, die Ukraine und Weißrussland dazu. Die CIA sieht das anders. Für sie zählt Russland zu Zentralasien und die Ukraine und Weißrussland zu Europa. Diese Unterschiede ergeben sich natürlich unter anderem aus den verschiedenen (politischen) Blickwinkeln, denn Kopfkarten werden immer aus einer bestimmten Perspektive gezeichnet.
Der Bus windet sich durch enge Straßen hinauf nach Buda – dem hügeligen, grüneren und ruhigeren Teil der Stadt. Ich bin fast der einzige Fahrgast, eine Überraschung nach dem hektischen Gewusel. Als ich, wie angewiesen, beim Wasserturm aussteige, sehe ich schon wie mir von Weitem Edina entgegenläuft. Ihr großer Schäferhund trabt hinterher. Wir fallen uns in die Arme, lachen und lassen lange nicht los, zu lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ein Jahr? Vielleicht zwei? Edinas Schäferhund beschnuppert meine Tasche. Wir laufen die Straße entlang und Edina beginnt zu erzählen und zu fragen. Edina hat immer Geschichten zu erzählen und Fragen zu stellen. Ihre Geschichten sind immer lebendig, ihre Fragen immer ernstgemeint. Sie hat viele Pläne für unser Wochenende, ein dichtes Programm, damit mir hier, in ihrer Stadt, nicht langweilig wird. „Bist du hungrig?“ fragt sie, als sie die Haustür aufschließt. Ich nicke. Der Schäferhund schlängelt sich zwischen unseren Beinen ins Haus, verschwindet kurz hinter einer Ecke und kommt zurück mit einem Ball im Maul. Seine Krallen kratzen ungeduldig über die kühlen Fliesen des Vorzimmers. Edina huscht in die Küche. „Mach’s dir gemütlich, ich mach dir was zu essen.“ Ich lasse mich von dem schiefgelegten Kopf und zwei kastanienbraunen Augen überzeugen, schnappe mir den Ball und laufe damit in den Garten. Nach dem Essen sitzen wir auf Edinas Terrasse. Die Sonne steht hoch und scheint uns frech in die Gesichter. Edina schiebt ihre Sonnenbrille in die Haare und wischt sich eine Träne von der Wange. Auch ihr hatten das Leben und die Liebe gerade übel mitgespielt. Wir fühlen uns in dem Moment sehr verbunden, denn das Herz schmerzt ja bekanntlich vor und hinter jeder Grenze auf eine ganz ähnlich fiese Weise.
Zu der Zeit als sich die Römer auf dem Kontinent breitmachten und ihre Kultur über ihm auffächerten, teilten sie Europa in ein Nord und ein Süd – in Barbaren und Kultivierte. Die Trennline bildeten dabei die Alpen, die mit ihren tiefen Falten eine tatsächliche physische Grenze darstellten. Bei der Trennung zwischen Ost und West, die als Idee erst viel später folgte, konnte man sich lange Zeit an nichts Physischem wie den Alpen festhalten. Ideologische und politische Grenzen mussten vorerst herhalten. Erst der Eiserne Vorhang gab der Idee von Osteuropa physische, fast 7.000 Kilometer lange, stacheldrahtige Konkretheit. Dass die Wucht dieser Spaltung auch heute noch ihre Spuren bei den Europäern und ihren Kopfkarten hinterlassen hat, ist weniger erstaunlich.
(...)
Dies ist ein Auszug aus der Kurzgeschichte "Edina", Siegertext beim Burgenländischen Jugendliteraturpreis 2014. In voller Länge ist er in der Anthologie "25 Jahre - Der Fall des Eisernen Vorhangs" zu lesen.